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iuventa-Kapitän Dariush Beigui: "Menschen auf der Flucht kostet es zu oft das Leben"

Am Sonnabend (21.5.) beginnt auf Sizilien die Vorverhandlung gegen 21 Aktivist*innen der zivilen Seenotrettung. Der Vorwurf: "Beihilfe zur illegalen Einwanderung". Bis zu 20 Jahren Haft drohen den Angeklagten. Unter ihnen ist Dariush Beigui, der unweit vom Millerntor-Stadion lebt. Als Aktivist war er mit verschiedenen Schiffen unterwegs, unter anderem als Kapitän der iuventa. Bei den Einsätzen konnte er helfen, vielen Geflüchteten das Leben zu retten.

Dariush, seit gut einem Jahr weißt Du, dass gegen Dich, drei andere Crew-Mitglieder der iuventa und weitere 17 Aktivist*innen Anklage erhoben wurde. Jetzt sind es nur noch wenige Tage bis zur Vorverhandlung. Wie geht es Dir mit der Situation?

Ich bin derbe aufgeregt wegen unseres Prozesses – aber ich habe keine Angst. Es ist natürlich eine Frechheit, dass ich unschuldig vor Gericht stehe. Aber das Gute ist, dass wir aktuell viel Öffentlichkeit kriegen. Die wollen wir nutzen, um auf die Themen hinzuweisen, die viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen und eigentlich viel wichtiger sind. Und das sind die Schicksale der Geflüchteten, die sich heute auf den Weg über das Mittelmeer machen und eben nicht gerettet werden, weil die Schiffe von Hilfsorganisationen immer wieder festgesetzt werden. Mich kostet das alles bis jetzt nur Zeit, Geld und Nerven. Aber Menschen auf der Flucht kostet es zu oft das Leben.

In der Vorverhandlung geht es darum, ob es wirklich zum Prozess kommt. Könnt Ihr irgendwie abschätzen, wie das Gericht entscheiden wird?

Das ist schwierig zu beurteilen. Bis vor ca. neun Monaten haben unsere Anwält*innen immer gesagt, dass es sicher zum Prozess kommen wird. Einfach weil diese Vorverhandlung im italienischen Rechtssystem in der Regel nur eine Formalität ist. Allerdings sind in den letzten Monaten jetzt doch einige Prozesse gegen Aktivist*innen in der Vorverhandlung gekippt worden, wie z.B. gegen Carola Rackete oder gegen Open Arms. Unsere Anwält*innen gehen immer noch davon aus, dass es zum Prozess kommen wird, aber wir müssen das abwarten. Die Vorverhandlung kann durchaus ein Jahr lang dauern. Für einen Prozess schätzen sie die Dauer auf fünf bis zehn Jahre.

Was ist denn aus Deiner Sicht die Motivation der italienischen Behörden, diesen Fall zu verfolgen?

Dabei geht es gar nicht speziell um uns. Dass es jetzt mich und die anderen Angeklagten getroffen hat, ist ja mehr oder weniger Zufall. Es hätte auch alle anderen Aktivist*innen treffen können, die auf dem Mittelmeer Menschen retten.

Es liest sich in den Akten sehr deutlich, dass es vor allem grundsätzlich um die Frage gehen wird, ob die Fluchtboote in Seenot sind oder nicht. Und das ist den italienischen Behörden wichtig, weil ihre eigene Untätigkeit legitimiert wäre, wenn das Gericht diese Frage mit "nein" beantwortet. Es werden immer wieder Rettungsleitstellen über Boote in Seenot informiert, von den Booten selbst, von vorbeifahrenden Handelsschiffen und so weiter, aber sie leiten keine Rettung ein.

Und es gibt keine gesetzliche Definition von "Seenot". Vermutlich hat sich früher niemand vorstellen können, dass man darüber mal streitet. Auf jeden Fall erfüllt jedes der Boote mit Geflüchteten die Richtlinien, die Frontex mal genannt hat, wie beispielsweise "überfüllt", "zu wenig Treibstoff", "zu wenig Proviant", "Verletzte an Bord" etc.

Müsst Ihr am 21. Mai auf Sizilien selbst anwesend sein?

Es gibt keine Anwesenheitspflicht, aber wir wollen hingehen. Wir wollen unsere Argumente vorbringen und wir wollen auch die Öffentlichkeit informieren. Für den ersten Anhörungstag ist auch eine kleine Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude geplant. Dazu wird natürlich in Italien aufgerufen, aber es werden auch viele Freund*innen aus Deutschland anreisen, auch aus Hamburg.

Welche Themen sind es denn, auf die Ihr vor allem aufmerksam machen wollt?

Erstmal müssen wir alle uns klarmachen, dass wir mit dafür verantwortlich sind, dass das Leben für die Menschen in ihren Herkunftsländern nicht mehr möglich ist. Da können wir noch so gute Menschen sein - wir alle leben unseren Lebensstil auf Kosten anderer Menschen. Der Kabarettist Hagen Rether hat das mal so treffend gesagt: "Unser Wohlstand steht auf Leichenbergen." Ich sage das nicht, weil ich meine, dass wir jetzt alle den ganzen Tag lang schlechte Laune haben und uns schuldig fühlen müssen. Aber dieser Zusammenhang muss uns allen einfach bewusst sein.

Und die zweite Sache ist, dass uns klar sein muss, dass wir immer privilegiert sind. Auch ich jetzt sogar in dieser Situation. Klar, ich habe ein Gerichtsverfahren am Hals und mir drohen bis zu 20 Jahre Haft. Natürlich lässt mich das nicht kalt. Aber wir kriegen aktuell auch viel Aufmerksamkeit und richtig viel Support. Und ich kann hier noch rumlaufen und man hört mir zu. Andere mit demselben Vorwurf sitzen schon seit Jahren im Gefängnis und niemanden interessiert das.

In Italien sind schon rund 2.500 Menschen wegen "Beihilfe zur illegalen Einwanderung" verurteilt und mit langen Haftstrafen belegt worden. Das sind Geflüchtete selbst, nämlich die "engine men", also die Leute, die am Motor des Fluchtbootes gesessen haben. Manche von denen haben aus Angst vor den Schleusern gesagt, dass sie ein Boot steuern können und damit diese Aufgabe bekommen. Andere mussten vielleicht etwas weniger bezahlen oder durften ihr Kind mitnehmen. Das sind aber keine Schleuser. Das sind Geflüchtete. Die kommen dann, wenn ein Boot aufgenommen wird oder anlandet, direkt in U-Haft, werden zu langen Haftstrafen verurteilt und später dann abgeschoben. Mir geht es da trotz der drohenden Haftstrafe deutlich besser. Und ich habe mich sogar dazu entschieden, Aktivist zu sein. Die wollten einfach nur leben. Wobei Haft, besonders durch politisch motivierte Ermittlungen, natürlich nie was Schönes ist und selbstverständlich habe ich da so gar keinen Bock drauf.

Und das ist auch nochmal wichtig: Die Menschen steigen nicht freiwillig in diese Boote. Sehr häufig werden sie mit vorgehaltenen Waffen von den Schleusern gezwungen. Wer nicht einsteigt, wird erschossen. Und dass die Lager in Libyen die Hölle sind, ist ja auch medial inzwischen dokumentiert und belegt. Das ist alles kein Geheimnis.

Genauso wie das Vorgehen der sogenannten libyschen Küstenwache. Früher war das einfach eine Miliz mit klapprigen Booten und Phantasieuniformen. Inzwischen ist das eine von Europa hoch ausgerüstete und bezahlte Einheit, die die Fluchtboote zuhauf abfängt. Das hat nichts mit Rettung zu tun. Die Menschen werden teils misshandelt und zurück nach Libyen gezwungen. Geflüchtete, die mehrfach Fluchtversuche unternommen haben, erzählen auch, dass die Leute der sogenannten libyschen Küstenwache teilweise dieselben sind, die sie nachts als Schleuser auf die Boote gezwungen haben. Das ist Kapitalismus in Reinform. Aber das erregt hier kein Aufsehen. Und Europa hat durch die Toten im Mittelmeer ja auch zehntausendfach dokumentiert, dass ihm diese Menschen egal sind.

 

Aktuell herrscht ja aber in Europa bezogen auf die Ukrainer*innen, die wegen des russischen Angriffskrieges fliehen, eine große Hilfsbereitschaft.

Aktuell zeigt Europa, was eigentlich möglich ist. Es ist möglich, eine riesige Zahl von Menschen aufzunehmen und angemessen zu versorgen. Diese Kehrtwende in der Haltung ist für Aktivist*innen, die sich in den vergangenen Jahren für Geflüchtete eingesetzt haben, zum Teil schwer zu begreifen. Wir sehen in Moria, wie Europa bisher Menschen, die vor Krieg geflohen sind, empfangen hat: Ohne ausreichende Verpflegung, ohne medizinische Versorgung, ohne Rechtsbeistand. Und das über Jahre. Kein fließendes Wasser, kein Strom. Dazu dann die Push Backs.

Das alles wäre gegenüber Ukrainer*innen niemals möglich. Der mediale Aufschrei wäre enorm. Sowas wie "30 ukrainische Kinder auf einer Rettungsinsel vor Odessa ausgesetzt" ist einfach komplett undenkbar. In der Ägäis passiert sowas aber mit Geflüchteten immer wieder.

Was ist aus Deiner Sicht der Grund für diese vollkommen unterschiedliche Behandlung?

Anscheinend können sich viele Leute hier durch den Krieg in der Ukraine auf einmal vorstellen, was wäre, wenn ihnen sowas selbst passiert. Wenn sie selbst fliehen müssen. Sie können sich mit den Ukrainer*innen identifizieren. Selbst in renommierten Medien kam sowas wie "Hier fliehen ja Menschen wie wir." Das hat mich geschockt. Aber offenbar brauchen viele diese Art der Identifikation, um Empathie zu empfinden.

Und meine Hoffnung ist, dass den Leuten jetzt bewusst wird, dass Krieg nichts Abstraktes ist. Und dass es immer und für jede*n furchtbar ist, fliehen zu müssen. Aber das scheint sich nicht zu bestätigen, wenn man sieht, wie die Türkei aktuell Kurdistan angreift und dass das wieder niemanden interessiert.

Umso wichtiger natürlich, dass immer wieder auf diese Themen hingewiesen wird. Lass uns nochmal auf die Wochen bis zur Vorverhandlung blicken. Was ist da geplant?

Wir freuen uns total, dass es aktuell so viel Solidarität mit uns gibt. Es gab ja schon Soli-Konzerte und Infoveranstaltungen. Auch beim Spiel gegen Nürnberg waren Aktivist*innen rund ums Stadion am Start, um über die Lage zu informieren. In den nächsten Wochen sind jetzt noch verschiedene Veranstaltungen in verschiedenen deutschen Städten geplant. Wir wollen die Aufmerksamkeit, die der Prozess bringt, für unsere Themen nutzen. Wenn die italienische Staatsanwaltschaft den Scheinwerfer auf uns richtet, darf sie sich nicht wundern, wenn wir anfangen zu singen.

Vielen Dank für das Gespräch, Dariush!

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Mehr Infos zur iuventa-Crew findet Ihr hier:

 

Fotos: FC St. Pauli

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